Der Schild des Grafen von Nürburg

von Walther Ottendorff-Simrock

Wo heute die glatte und kühn gewundene Rennstrecke des Nürburgringes verläuft, da führte früher ein holpriger Weg auf die Burg zu, nach der die weltberühmte Autorennbahn benannt ist. All dies Land, das früher in großer Einsamkeit lag, gehörte zwei Brüdern aus altem Grafengeschlecht. Es waren milde und fromme Herren, landauf, landab wohlgelitten, aber hart und oft unerbittlich im Kampf mit den Feinden. Der eine, Konrad von Hochstaden, wurde später Erzbischof von Köln, während der andere, Ulrich, Herr der Burg blieb. Er hatte zeitlebens so manchen blutigen Strauß auszufechten: Er schwang tapfer das Schwert, und wo die Feinde sein Wappen im Schilde sahen, beschlich gar manchen Furcht vor diesem wackeren Degen. Es war ein von den Speeren zerspellter Schild, der von unzähligen Kämpfen erzählen konnte.

Als Graf Ulrich ein weißhaariger Greis geworden war, war auch die Kraft des Armes erlahmt, und der Schild hing als Zeichen der Erinnerung im Palas der Burg unter Schwertern und Lanzen, Bogen und Pfeilen an der Wand. Wer auch zu Gast in diese Burg geritten kam, stand nicht nur ehrfurchtsvoll vor dem alten Ritter, sondern auch vor diesem zerhauenen Gewaffen. Der Glanz war im Laufe der langen Kampfesjahre verblaßt. Nur wenn am Abend oder am Morgen die Sonne durch das gewölbte Burgfenster fiel, dann strahlte immer wieder das Wappenbild im Schilde auf. Und wer ein besonders feines Gehör hatte, dem war es, als klänge es aus dem feinen Blitzen und Glänzen auf von dahingeschwundener Ritterkraft und heldischer Tat.

Es nahte die Stunde, da Graf Ulrich zu sterben kam. Er fürchtete sich nicht vor dem finsteren Gesellen, der stärker ist als selbst der kühnste Held und dessen Sense nicht einmal am stärksten Schild zu zerbrechen vermag. Die Söhne und Freunde des Grafen umstanden das Sterbelager, und da jeder sah, daß das Stündlein nicht mehr fern war, da sich die Seele vom Leibe trennt, war ihr Trauern groß. Bevor noch die Sanduhr leer gelaufen, würde der Tod seine Hand ausstrecken, um den Grafen mit sich zu fühlen. Aber was allen ungewiß war, was nur Gott wissen konnte, war dieses: würde der Tod die Seele des Ritters den Pfad hinauf zur himmlischen Seligkeit oder hinab in das Feuer ewiger Pein geleiten?

Da faßte sich der beste Freund, ein Ritter von Rhein, ein Herz und sagte mit verhaltener Stimme: „So Gott es zuläßt, gib uns um unserer alten Freundschaft willen ein Zeichen, wenn der Herr sein Urteil über dich gesprochen hat. Deine Söhne und wir, die wir Gefährten in Lust und Leid durch viele Jahrzehnte waren, wollen dir auch nach dem Absterben verbunden sein und haben deshalb ein Recht darauf, zu wissen, ob du auch dort drüben im Glück oder im Leide weilest, denn nimmer kann der Tod die Freundschaft zerbrechen, wie ein sterblicher Leib zerbricht."

Da es gerade um die Abendstunde war, geschah es, daß der letzte Strahl der sinkenden Sonne über dem zerspellten Schild an der Wand dahinfunkelte und die Augen des Sterbenden das goldene Leuchten erspähten. Ein feines Lächeln trat in das Gesicht, auf dem bereits der sich nähernde Schatten des Todes lag. Mühsam, aber mit letzter Kraft richtete Graf Ulrich sich auf, und die ausgezehrte Hand wies auf den Schild: „Ihr alle, die Ihr hier steht, wart mir treu im Ablauf meines langen Lebens; aber nicht weniger brüderlich war dies Gewaffen dort, mein Schild."

Blick auf die Nürburg

Sie verstanden nicht, was er meinte, und glaubten, er rede in Fieberglut. Doch da war wieder die Stimme des Recken: „Sobald ich Euch verlassen habe, um vor den Richterstuhl Gottes zu treten, so nehmt den Schild von der Wand und hängt ihn zur Rechten an diesem Pflock der Lagerstatt auf. Dann wartet auf das Zeichen, das ich durch Gottes Gnade Euch geben werde. Wenn dieser Schild innerhalb von drei Tagen aus eigener Kraft zu Boden fällt, so wisset, daß meine Seele zu Gott in die Seligkeit gefahren ist. Gott möge es gnaden!" Als er dieses gesprochen hatte, sank er in die Kissen zurück und starb. Die Söhne, die Freunde und alle Knechte der Burg beteten und hielten bei Tag und Nacht die Leichenwacht. Kaum daß sie aßen und tranken, denn alle waren begierig, zu erfahren, was mit der Seele des Abgestorbenen geschehe, wie Gottes Richterspruch gefallen sei. Als der zweite Tag bereits vergangen war und der Schild noch immer unbewegt am Pflocke hing, beschlich alle Herzen heimliches Zagen, und in jeder Brust bebte versteckter Gram. So kam die Nacht heran, und die Pechfackeln an den Wänden brannten tiefer und tiefer, und mit jedem Fingerbreit sank auch die Hoffnung der Ritter und Mannen.

Es mochte um die vierte oder fünfte Stunde am Morgen sein, als die ersten Hähne im nahen Dorfe krähten. Just im gleichen Augenblick erhob sich die Sonne hinter dem Saum der Eifelberge. Ein Leuchten durchbrach die Wolken und Nebel, führ wie mit spitzen Finger hindurch und flutete über die Zinnen der Burg. Ehe sich noch die Hände der , Ritter zum Morgengebet falten konnten, sprang ein schmaler Strahl der Sonne durch das Burgfenster und stieß auf den Schild am Pflock. Das Wappen des Grafcn leuchtete für einige Augenblicke golden und silbern auf, dann traf der morgendliche Schein auch das Antlitz des toten Grafen. Und nun geschah es: Die Bänder, die den Schild an den Pflock geschnürt hielten, rissen entzwei, und das Gewaffen stürzte schwer und doch mit hellem Klingen zur Erde. Da sanken die Männer in die Knie und priesen Gott, der der Seele des Grafen gnädig gewesen war.

Längst ist Herrn Ulrichs Burg zerfallen und das Geschlecht erloschen. Aber wer am Abend oder am frühen Morgen durch das Land am Nürburgring wandert, dem mag es schon einmal geschehen, daß er auf der höchsten Zinne der Burg ein wundersames Leuchten sieht, und es ihn mahnt, daß auch er einmal vor dem Richterstuhle Gottes stehen wird. Dann möge Gott uns allen gnädig sein!