DREIFLÜGELALTAR

IM BAUERNLAND

Das Triptychon von Kirchsahr • Ein Werk der altkölnischen Malschule

Eine Studie von Harry Lerch

Welcher Reichtum in unserer Landschaft! Es braucht nicht mehr als eine Wanderstunde, und das Auge staunt vor einem großen, geheimnisvollen Werk der altkölnischen Malschule aus dem fünfzehnten Jahrhundert.

Welcher Reichtum in unserer Landschaft! Viele wissen nichts von ihm, und daher sei in diesen Seiten davon geredet. Den Standort des Dreiflügelaltars von Kirchsahr zu erreichen ist nicht mühselig. Es heißt nur, den Fels der hohen Burg Kreuzberg umschreiten, und dann öffnet sich ein verwunschenes Tal, wie es Moritz von Schwind gemalt hat oder Hans Thoma — ein sanftes Tal mit Bachlauf und Wiesengrund, mit Abgeschiedenheit und Wald, mit Zauber der Stille und Labsal ungestörter Natur. Es wandere einer in dieses Tal der Sahr oder er fahre — die letzten tausend Meter gehe er schweigend. Er gehe sie wie durch einen Vorhof der Kunst oder einer Kathedrale, als eine Strecke der Sammlung. Denn dieses Werk zu sehen braucht Vorbereitung. Das lehren auch die Stufen, die hinanführen zu dieser kleinen Kirche, die im übrigen noch mehr Kostbarkeiten bereithält: die Türkenmadonna, wie es sie nur dreimal noch in unserem Kreise gibt, der St. Martin zumal und das Vesperbild. Tut sich das Portal auf in dieser Kirche, heißt es den Schritt verhalten. Denn nun breitet sich ein hohes Werk der Kunst aus auf den Flügeln dieses Altars. Ist er geschlossen, verhüllt er viel. Auf den Tafeln der geschlossenen Flügel schimmern adelig die acht Gestalten auf Goldgrund und Blumenornament: Petrus und Paulus, Benedictus, Katharina, Hubertus, Margarethe — und Chrysantus mit Daria, mit denen es besondere Bewandtnis hat, weil sie auf die Herkunft dieses Altarwerks schließen lassen. Nun öffnet der Küsler den Altar. Schweigend wenden sich die breiten Flügel auf. Zögere noch, Küster!, daß sie sich langsam aufschlagen wie die großen Seiten des Weltenbuches.

Da wird die Welt offenbar. Das Christus- und Marienleben leuchtet magisch auf im sanften Glanz des Dämmerlichts. Die Tafeln schimmern geheimnistief wie die Miniaturen aus einem königlichen Gebet- und Stundenbuch der alten Meister. Das Auge geht von Bild zu Bild, vertieft sich und löst sich zögernd von einer Tafel, um dem kommenden Bilde zu begegnen und sich darein zu verlieren, das Auge schweift die Tafeln ohne Ordnung noch ab und sucht und verweilt. Es bleibt an der großen Kreuzigung und ihrem strahlenden Gold, wird sanft zurückgerufen vom Krippengeheimnis und den Drei Königen, ist gebannt von der stillen Majestät der Himmelfahrt und Marienkrönung oder des Pfingstmysteriums, der strahlenden Herabkunft des Heiligen Geistes . . .

Von einem solchen Geiste ist dieses Werk der kölnischen Malschule wahrhaft erfüllt. Das Altarwerk ist gestaltet von bildkräftigen Ordnungen. Es ist ein Zyklus. Es ist wie die Strophen eines Liedes, in dem keine vertauschbar ist. Der Altar ist Offenbarung. Er verkündet. Er will gelesen sein wie die Seiten eines Buches. Er ordnet sich in seiner großen Mitteltafel, mit den flankierenden Bildern ihr zur Seite, und den beiden Seitenflügeln. Die weise Ordnung gibt dem Auge nun Sammlung, und so beginnt es die Tafeln zu lesen:

Linker Flügel:    Mitteltafel:    Rechter Flügel:
1 2 7 8 18 19
3 4

9    12

10

16

17
5 6 11 13 14 15

Die Tafeln sind also „lesbar" wie die Bilder einer Biblia pauperum des vierzehnten Jahrhunderts, als mit Holzschnitten, ohne Beschreibung, die Schöpfungsgeschichte und das Marien- und Christusleben wortlos denen vergegenwärtigt wurde, die die Lettern noch nicht lesen konnten.

Die achtzehn kleinen Tafelbilder und das große Mittelbild ordnen sich zu drei Kränzen, zu drei Mysterien, zu den Geheimnissen des Rosenkranzes.

Das Auge liest sich ein. Es ist nicht mehr geblendet vom mystischen Dämmerglanz des Goldes. Es wird der innigen Geheimnisse der Tafeln inne und einer jeden stillen, aufschließenden Schönheit. Das Auge nimmt aus der großen Harmonie die individuelle Geschlossenheit eines jeden der achtzehn Bilder und der großen Kreuzigung wahr. Und wie im Orgelakkord vereinen sie sich zur Bildhoheit des gesamten Altars. Geheimnis der Bilder! Mysterium der Farben! Die legendenhafte Erzählkunst der Meister, die an den Tafeln des Altars gemalt haben, gibt vielfältige Farbordnungen und Kompositionsspannungen wieder. Es ist offenbar, wovon noch zu reden sein wird, daß mehrere Handschriften an diesem Tryptichon abzulesen sind, es also ein Meister und einige Helfer gemalt haben.

Wir können nun schon, da die Bildfolge bewußt ist, den Altar und seine Tafeln lesen. Der linke Flügel hat zum Inhalt die fünf Geheimnisse des freudenreichen Rosenkranzes, in die sich die Anbetung der hl. drei Könige einfügt. Was enthalten diese Tafeln? Das ist ihr Inhalt:

Der linke Flügel

1. Die Verkündigung

Ein Innenraum . . . Links der Engel mit dem Spruchband, rechts Maria am Betpult. Zu ihr strömt ein Gnadenstrahl von Gottvaters Herz, wie es R. M. Rilke im „Marienleben" in dem Vers gegeben hat: „Der Engel spricht: Vergib mir, ich vergaß, was ER, der groß in Goldgeschmeid wie in der Sonne saß, Dir künden ließ, Du Sinnende (verwirrt hat mich der Raum). Sieh: ich bin das Beginnende, Du aber bist der Baum." Strahlend ist Gottvater, der Lenker der Welten, über der Zinne sichtbar. Wie trennt eine Zäsur der Farben das Geschehen von ihm, das allein der leuchtende Strahl aus seinem Herzen überbrückt! Eine Teppichbordüre von Rot-Weiß-Blau trennt dies in die Weite, und umso näher rückt die Erwählte zu uns, mit ihrem Gebetpult, mit den Lilien in der Schale — ja, mit zwei gebundenen Büchern im Bord. Immer rühren diese Anachronismen, wie auch die Schriftgelehrten statt der Schriftenrollen der Gelehrsamkeit gebundene Folianten in den Händen aufgeschlagen haben.

2. Mariä Heimsuchung

Die beiden Fragen begegnen einander in einem Gespräch, wie es Frauen innig führen, wenn das Lebensmysterium sie anrührt. Rechts die offene Pforte, links türmt sich am Bildrand eine Burg auf hohem Fels mit rundem Turm — wir müssen an Giotto denken. Die Landschaft ist auf diesem Bilde schon offen, wie bei Giotto, dem italienischen Verkünder von Landschaft, Pflanzenreich und Natur. Von solchem Wahrnehmen, Erkennen und genauem Abbilden des Gesteins, der Krauter und Blumen wird noch zu reden sein auf den Tafeln des rechten Flügels.

3. Christi Geburt

Innige Gemüthaftigkeit in diesem Geschehen der Christgeburt, dem sanften Mysterium im Stall, wie ein Hauch im Vers Weinhebers: „Als ein behutsam Licht stiegst du von Vaters Thron. Wachse, erlisch uns nicht, Gotteskind, Menschensohn . . ." Die Wärme im Stall — von links lugen die Hirten herein, das Wunder zu bestaunen. Das Flechtwerk des Stalls läßt an die heimatlose Wandernacht des Paares noch einmal denken, aber Ochs und Esel wärmen mit ihrem Atem das Kind . . . Links ist über dem Hüttendach der verkündende Engel zu sehen, zwei Hirten knien mit vier Schafen auf der grünen Matte und lauschen der Botschaft. Und hier begegnen wir dem Rosenkranzmysterium mit einem Hinweis des Malers. Seltsam, wie er es tut: der müde Josef hat die Stiefel abgelegt und vor sich gebreitet, um sie zu trocknen, den Wanderstab daneben. Und am Griffe dieses Stockes ist der Rosenkranz hängend sichtbar! Das Auge täuscht sich nicht: noch einmal bekräftigt der Maler es auf dem Bilde der hl. drei Könige! Mitten im Geschehen wird also das künftige Symbol schon dargestellt: Der Rosenkranz.

4. Die Anbetung der Könige

Hier noch das Hüttendach, aber alles Beiwerk tritt zurück für das königliche Thema: das göttliche Kind empfängt die Stammesfürsten der Erde. Josef faßt sich an den Kopf vor Staunen, aber die mütterliche Frau und das Kind nehmen die Huldigung entgegen, als wüßten sie, wie das Dienen Könige groß macht. Der kniende Magier hat die Krone dem Gottessohn zu Füßen gelegt, und nun schimmert die schmückende Farbe schon leuchtender auf, die sich zuvor zu verinnerli-chen mühte mit Grau und Blau und Weiß. Die Mäntel der Könige sind von kostbarem Brokat — einer Pracht der Farbe, die der Meister und seine Gehilfen insbesondere auf der Kreuzigung noch ausbreiten werden an den Mänteln der Heerführer und Hohenpriester.

5. Darbringung im Tempel

Über das kostbare Tuch des Opfertisches reicht die Madonna das Kind, und diese Aktion in der Waagerechten hat eine schöne Begleitschaft im Teppichfries darunter, nun in Farben wieder reicher, intensiver, leuchtender mit Weiß-Grün-Rot-Blau. Die Gestalt links hat zwei Tauben im Körbchen, wieder das kostbare brokatne Gewand des Hohenpriesters mit eingewebten Ornamenten — die Bildtafeln wachsen an Reichtum und Vollendung, nehmen bisweilen wieder ab, und dann gleitet die künstlerische Vollendung wieder zu Bildhoheit und schöner Komposition. Wir spüren es von Bild zu Bild, daß mehrere Helfer dem Meister zur Hand gewesen sind m der rheinischen Werkstatt.

6. Bei den Schriftgelehrten

Das letzte Bild des linken Altarflügels: hier ist der Blick nicht geöffnet über den Raum. Er ist „lnnen"raum des Tempels. Christus auf einem zierlichen Thron, davor im Rund die Schriftgelehrten. Welcher Eifer bei ihnen, welches Darbringen der Weisheiten und des Kultus, wieviele beredte und enthusiastische, aber auch staunende Gebärden, die schon verraten, daß der kommende Messias ihnen die Weltenordnung anders und heilsamer deutet! Links kommen die Eltern heran, die den Knaben vermißt haben und ihn finden, wie immer Josef im Hintergrund mit dem kindlichen Blick, der das hohe Geschehen kaum begreift, aber mit rührendem Stolz wahrnimmt. Die Palette ist wieder einen Schein reicher: ein vierfaches Rot, das Gelb, Russischgrün, Moosgrün, und alles überstrahlt vom königlichen Marienblau.

Die Mitteltafel des Triptychons

7. Christus am Ölberg

Die erschütternde Einsamkeit in der Nacht, in der Hoffnung, der Kelch werde von ihm noch einmal genommen. Die große Einsamkeit im ölbaumgarten, für die wir den Dichter noch einmal sprechen lassen: „Ich bin allein. Ich bin allein mit aller Menschen Gram, den ich durch Dich zu lindern unternahm . . . Ach, es kam die Nacht und blätterte gleichgültig in den Bäumen. Die Jünger rührten sich in ihren Träumen." Unten schimmern die Farben in den Gewändern der Jünger mit Blaßrot, warmem Gelb und Dunkelblau — darüber wird das Bild dunkel und hüllt den einsam Geprüften ein mit seinem gequälten Antlitz vor dem Himmel: rechts der goldene Kelch, links die dunklen schweigenden Bäume als Zeugen der stummen Natur.

8. Der ratlose Pilatus

Die Stunde des Prokurators. Zwei Knechte — einer in grell gelbem Gewand — führten Christus heran und halten ihn vor Pilatus, der ratlos die Hände in die Schale taucht, die ihm der Diener hält. Sein Blick geht ins Leere. Es ist die große dunkle Stunde des Prokurators, über der die Frage lastet: „Was ist Wahrheit?"

9. Die Geißelung

Nun überspringen wir zum zweiten Male die große Bildtafel der Kreuzigung. Die Leiden des Gottessohnes sind noch nicht ausgekostet. In der Mittelachse der neunten Tafel ist die Säule, an die die Knechte Christus gebunden haben. Eine primitive, pralle, martialische Szene, in der dieser blutende Körper des Gepeinigten klagend bleich leuchtet. Und seltsam, die Derbheit des Geschehens ist auch im Grad der künstlerischen Stufe abzulesen: diese kleine Tafel hat eine andere Hand

gemalt, ein stumpfer Sinn und ein derber Pinsel, ein Gehilfe des Meisters, einer, der noch die Gestalten und den geistigen Gehalt zu suchen halte. Vielleicht war der Meister des Altars erzürnt darüber, aber es war vergebens, einem 'alentlosen Schüler das Bildgeheimnis und die Gabe der Komposition, die Kunst der steigernden Bildordnung zu lehren.

10. Die Dornenkrönung

Ebenso unbeweglich ist dieses Bild trotz der vielfältigen Aktion von Spott und derber Qual der feindseligen Marter-instrumenle und klobigen Hände. Die beiden oberen Knechte haben grelle Farben ohne verfeinernden Hauch der Mischung, Steigerung und Milderung. Gelb, Blau, Rot, Grün stehen fühllos gegen die Armut des härenen Mantels, der Purpur sein soll und verhöhnt.

II. Die Kreuztragung

Der steinerne Weg. Die Qual. Die Last. Die Steine hat der Maler wahrhaft unter die Füße des Kreuztragenden gelegt. Die harte Keule drückt aufs blutende Haupt.. . Die Szenen werden unerbittlicher, gewinnen aber schon wieder Meisterschaft der Gestaltung. Was in der Pilatusszene angedeutet war, wird auf der Palette nun wieder reicher: die Rüstung der Kriegsknechte, der Schuppenpanzer, die Mäntel über dem Metall.

12. Die große Kreuzigungstafel

Auf dieses große Zentrum der Kreuzigung haben die kleinen Tafeln hingeleitet. Das ist das Mittelstück. Steil ragt das Kreuz auf über der bunten Szene, zu Seiten die Kreuze der beiden Schacher. Engel mit dunklem Flügelkleid halten Kelche an die Wunden der Hände, der Füße und des Herzens, um das kostbare Blut zu bergen. Die Engel . . . die schrecklichen und guten Engel — da reißt ein abgefallener Sohn des Luzifer dem rechten Schacher die Seele aus dem Munde, um sie im Triumph ins dunkle Reich zu entführen. Links aber nimmt ein heller Engel dem bekennenden Schacher die Seele aus dem Munde, die schon das Kleid der Verklärung und das Antlitz der Ewigkeit trägt. Spitz starren die Lanzen auf mit geheimnisreichen Zeichen von Buchstabensymbolen, und jubilierend fast schwingt das Schriftband auf aus dem Munde des Hauptmanns, der den Sohn Gottes erkennt: „Vere filius Dei erat hie." Ein Spruchband noch einmal am Kreuzesstamm: „O Jesus filius Dei miserere mei" — es ist das Wort des knienden Stifters. Er ist unbekannt wie im Grunde der Meister.

Welche Vielfalt, welche harmonische Ordnung des Geschehens! Dreißig Personen sind auf der Kreuzigungstafel, aber sie sind wohlgeordnet in Gruppen: Links und rechts vom Kreuz die Heerführer und Offiziere, die Hohepriester, die Spottenden und Verneinenden; links unten die beweinenden Frauen, rechts die Knechte, die um den Mantel würfeln. Nicht genug — dieses Bild hat wohlgeordnet sechs unverkennbar isolierte und bedeutungsreiche Szenen, von denen drei heilsam, drei betrüblich verneinend sind. Wenn wir fürs Positive das Pluszeichen setzen wollen und das Minuszeichen für das negative Geschehen der Szenen, ordnen sie sich in einem klaren Rhythmus zueinander:

+                      -

-                      +

+                      -

Die positiven, erfreuenden Szenen: links oben der Gnadenbeweis der Seelenrettung am glaubenden und bekennenden Schacher. Mitte rechts: der bekehrte und erkennende Hauptmann, der (hier im Spruchband abgewandelt) weiß: „Das ist wahrhaft Gottes Sohn". — Links unten: der Schmerz und das Weinen, die Trauer

der vier Frauen und des Johannes. Welche Bedeutung gab der Meister dieser Gruppe! Im klingenden Kanon die drei Heiligenscheine geschlossen wie im Dreiklangakkord, der des Jüngers im Nachhall, und darüber am Bildrand die Beweinende mit verhülltem Antlitz. Diese Pleu-rante, in der frühen Malerei Frankreichs oft und oft abgewandelt, ist ein Kontrapunkt der Kompostion von unerhörtem Wert.

Die negativen, schmerzlichen, beklagenswerten Geschehnisse des Bildes: rechts oben die gefallene, vom Abgesandten des Luzifers hinweggerissene und für immer verlorene Seele. Mitte links: der verneinende Hochmut des Hohenpriesters, der die spitze Lanze in die Seite des Gekreuzigten stechen läßt. Rechts unten: gleichgültig, stumpf, beutegierig würfeln die Knechte um den Mantel, den lavendelgrauen Mantel des Gekreuzigten, den er in seiner Leidensstation trug . . . Aber, nichts ist ohne Versöhnung! An dieser gnadenlosen Szene sprießen Blu-men auf, Blumen aus dem berstenden Erdreich. Und versöhnt ist der Schmerz dieser großen Kreuzigung von Farben und makellosen Ornamenten auf den Gewändern, dem mit Blumen geschmückten Zaumzeug, kosibar gepunzten Sätteln — eines der Elemente der Malerei, die Farbe, bekommt heilende Funktion.

13. Die Kreuzabnahme

Ausklang des großen Mittelflügels ist die Kreuzabnahme unten rechts. O Wunder: der Hauptmann ist zugegen, der das große Geschehen des Kreuzestodes erkannt und sich bekannt hat! Er nimmt den Leichnam vom Kreuz. Zwei der Peiniger sind helfend dabei. Einer trägt die Zange im Gürtel, der andere löst die Nägel von den Füßen. Die schmerzensreiche Mutter nimmt den Arm ihres Sohnes, Johannes stützt sie in ihrer statuarischen Verzweiflung.

Der rechte Flügel

14. Die Grablegung

Erinnern wir uns, daß der rechte Flügel von unten zu „lesen" ist:

18      19

16      17

14      15

Beginnen wir unten links. Wieder ist der reichgewandete Hauptmann dabei (am linken Bildrand). Schräg ins Feld ragt der steinerne Sarkophag, dahinter die Gruppe der Frauen und des Jüngers Johannes. Ein Kriegsknecht legt den Leichnam in den rosafarbenen Sandsteinsarg und bettet ihn ins weiße Tuch. Wir sprachen bei den Tafeln des linken Altarflügels, wie das Naturerkennen wächst im Reichtum des Werkes, und hier ist ein Zeugnis dafür: unter dem Sarkophag treiben Kräuter aus dem frühlingshaften Erdreich, erkennbar sind Taubnessel und Klee, Hahnenfuß und Pimpernell!

15. Die Auferstehung

Welche sanfte Gewalt des Bildes! Christus auf dem Grabe, ringsum hingesunken, geblendet, das Haupt verhüllend die vier Wächter! Nichts nutzt ihnen die eiserne Rüstung vor dem Ostermysterium, nichts die Pracht der Farben noch ihre Lanzen — österlicher Geist weht auf und erfüllt die Welt. Christus trägt die Fahne des Sieges über das Irdische, das Dunkle, den Irrtum. Auch hier sprießen Blumen auf, daß selbst die Erde teilhabe am wunderhaften Auferstehungsgeschehen.

16. Christi Himmelfahrt

Maria und die Apostel umstehen im Rund die Szene der Entrückung. Christus ist schon weit . . . Blaßrot, Königsblau und Moosgrün ist der Wechsel der Farben an den Rändern, und über ihnen das mattschimmernde Gold des Himmels.

17. Das Pfingstwunder Der Kreis der Apostel und der Madonna bleibt geschlossen. Die vier Evangelisten vorn knien und sitzen auf der hölzernen Bank, einer hält ein Buch in den Händen . . . Der Geist des Pfingstmysteriums braust über ihnen, und in der Herabkunft der Taube des Heiligen Geistes haben die Gesichter eine Verinnerlichung, die fast schmerzt, so gezeichnet sind sie von der Macht der göttlichen Sendung.

18. Der Tod Maria

Das ist das vorletzte Bild des großen Zyklus, in dem die glorreichen Geheimnisse verherrlicht werden. Der Tod Maria hat viele versammelt an ihrem Lager, das von kostbarem Brokat glänzt. Die Apostel umstehen und umknien die Stunde ihres Sterbens, der erste Priester reicht ihr die hl. Hostie aus dem Kelch . . .

19. Die Krönung der Madonna

Der Ring schließt sich. Mit der Marienkrönung ordnet sich das letzte Glied des Zyklus. Prachtvollstes göttliches Rot, das feierliche Blau der Gottesmutter, die schimmernde Weltenkugel, die Krone und die segnende Hand, die beiden Engel darüber — und wieder Blumen, sprießende, bunte Blumen.

Das alles rührt an die schauende, erkennende Seele: die Dramatik des Bildgeschehens und die Spannungen der Komposition, das Detail wie die symphonische Ord-nun des Ganzen. Und nun tritt die schwerste Frage an uns: Wer ist der Meister? Das Bildwerk ist nicht signiert noch trägt es Jahreszahl, aber es gehört zur kölnischen Malschule ohne geringsten Zweifel und ist um 1410 bis 1420 entstanden. Die Tafeln sind 1,90 m hoch, die Seitenflügel je 1 m breit, das Mittelstück 2 m breit. Offen bleibt

eine Nachbarschaft zum Kreis des Meisters Konrad von Soest, wofür die große Kreuzigung einigen Aufschluß gibt und (darauf hat Clemen im Handbuch der Kunstdenkmäler früh hingewiesen) die Ähnlichkeit mit der Kreuzigung des Meisters Hermann Hinrich von Wesel. Es liegen auch Mutmaßungen nahe, an Stefan Lochner zu denken — auf jeden Fall ist der Kirchsahrer Altar eines der bedeutendsten Werke zwischen Meister Wilhelm und Stefan Lochner. Das freilich darf als sicher angenommen werden: an dem Altarwerk sind mehrere Hände beteiligt gewesen, denn in Farbe, Ausdruck und kompositorischem Bildwert differieren sie auffallend.

Die Deutung ist schwer, das heißt den Altar einem Meister der altkölnischen Malschule endgültig zuzuweisen. Das auszusprechen hat der Altmeister der kölnischen Malschule, Prof. Alfred Stange, gezögert wie der ehemalige Provinzialkonservator Graf Wolff Metternich, der jetzt die Bibliotheca Hertziana in Florenz leitet. Beide weisen auf die hohe Bedeutung des Altars hin. Prof. Alfred Stange beklagt es, daß dem Kirchsahrer Altar so wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde — in seiner Bedeutung wie von der kunstgeschichtlichen Forschung. Er schreibt im „Jahrbuch der Rheinischen Heimatpflege"*), daß ihn Aldenhoven der altkölnischen Meister der älteren Sippe zuordnet und Renard sich in seinem Restaurationsbericht 1914 anschließt: „In der Tat", so schreibt Prof. Stange, „steht der Altar jenem Meister nahe, der in die Nachfolge des Meisters der Veronika gehört, vielleicht aber ursprünglich aus Niedersachsen, aus dem Kreis der Göttinger Werkstatt von 1402, nach Köln kam. Er scheint überhaupt bestimmt, ein wesentliches Bild in der kölnischen Kunst darzustellen. Der westfälische Einfluß, den etwa auch die Madonna mit der Wickenblüte im Wallraff-Richartz-Museum zeigt, wird durch ihn eindeutig belegt. Sein Aufbau ... ist in Köln ungewöhnlich, dagegen weitverbreiteter Brauch in Westfalen und Niedersachsen. Gleich dem Wildunger Altar des Konrad von Soest sind dem linken Flügel sechs Begebenheiten aus der Jugendgeschichte Christi vorbehalten. Und bei diesem westfälischen Maler ist auch die besondere Quelle seiner Formmittel zu suchen. Dennoch darf das Kölnische nicht übersehen werden . . . Die Passionsdarstellungen, zumal Ölberg, Christus vor Pilatus, Kreuztragung, Kreuzabnahme und Auferstehung, knüpfen ziemlich unmittelbar an kölnische Vorbilder, an „die große Passion" an, während in der Jugendgeschichte Christi manche Bilder wie die Verkündigung mehr auf Konrad von Soest weisen."

Das gibt noch keinen endgültigen Aufschluß. Der Verfasser dieser Studie für den „Heimatkalender des Kreises Ahrweiler" bekennt, daß er das Wagnis einer Zuschreibung nicht auf sich nehmen kann. Dazu sind Bildvergleichungen und Originalstudien notwendig, die Jahre in Anspruch nehmen, da alle Originalwerke der hier angeführten altkölnischen Meister zu vergleichen sind.

Wie es auch sei: des Anschauens und des Nachdenkens ist der Dreiflügelaltar von Kirchsahr wert, des Studiums und des Betrachtens, weil er ein Reichtum ist in der rheinischen Kunst und ein großes Werk der altkölnischen Malschule. Es steht zu hoffen, eines Tages darüber mehr sagen zu können.

*

Dreiflügelaltar im Eifeler Bauernland . . . Wie kam er nach Kirchsahr? Das Triptychon gehörte früher zum Stift Münstereifel, ja, es ist offensichtlich als Stifterbild dafür in Auftrag gewesen, denn die Schutzheiligen Chrysanthus und Daria weisen darauf hin. Es ist unfaßlich, daß Münstereifel sich von diesem Werk trennen konnte — umso mehr schätzt ihn die Bewohnerschaft dieses stillen Tales. Es geht die Legende, eines Tages habe Pfarrer Johannes Cremer von Kirchsahr 1782 in Münstereifel gepredigt.

*) 9. Jg., Heft 4, S. 578.

Und da stieg einer auf die Kanzel von einer Predigergewalt des Abraham a Santa Clara! Er predigte so reif und edel, so kühn in den logischen Schlüssen und in der Phantasie der Auslegung, daß die Chorherren verblüfft waren. Da kam einer aus dem Bauernland und konnte predigen wie ein Erzengel! Sie stellten ihm einen Wunsch frei: da wählte er den Dreiflügelaltar. Mochte sein Wert damals nicht erkannt sein, mochten die Mönche wahrhaft bezwungen sein — sie gaben ihn her und hielten ihr Versprechen, und im Triumphzug wurde er ins Sahrtal geleitet.

Nun füllt er die Chorwand der Apsis, aus der das gotische Gewölbe gebrochen werden mußte, um dem Triptychon Raum zu geben — die drei leeren Konsolen zeugen noch davon. Die Farben dämmern, das Gold schimmert, und Maß und Macht und Geheimnis der Kunst geben dem Göttlichen Verherrlichung.